Wir alle brauchen Gemeinschaft, denn wir wachsen vor allem im Kontakt mit anderen und durch andere. In diesem Beitrag berichte ich über mein Lernen mit „dem Wir“ und wie sich das, meiner Erfahrung nach, auf die Gestaltung von Zusammensein auswirkt.
Vor dem Hintergrund, Jahre in gefühlter Einsamkeit verbracht zu haben, spielt Gemeinschaft in meinem Leben heute eine entscheidende Rolle. Dabei rede ich von Gemeinschaft als einem Ort menschlichen Miteinanderseins und als eine Qualität der Verbindung. Es geht nicht um das bloße Zusammensein – was auch, in Ergänzung, schön sein kann. Ich rede von Gemeinschaft als einem Ort, an dem ein mitfühlender Blick hier, ein authentisches Teilen dort, menschliche Berührbarkeit, gar eine süße Träne Platz haben.
Wenn wir in unserem Zusammensein für solche Begegnungen Räume schaffen, dann öffnen sich plötzlich graue Türen zu bunten Facettenpalästen. Ein ganz neues Wesen meiner Mitmenschen blinkt dann hervor und ich sehe neue Winkel meines eigenen. Denn wir (an)erkennen uns nur wechselseitig als Wesen, wenn wir im Mensch-zu-Mensch-Kontakt sind. Wir brauchen Zeugen für unsere menschliche Erfahrung. Denn dann können wir Dinge sehen und (er)leben, die vorher im Verborgenen schlummerten. In solch einer Gemeinschaft können wir unser Miteinander und unser Selbst viel tiefgreifender erfahren und am Ende zu uns selbst gelangen. In diesem Zusammenhang bedeutet Gemeinschaft nicht die Flucht von mir weg, sondern ist ein Weg zu mir hin. Ich erkenne mich selbst, ich lerne mich lieben und jene Selbstgenügsamkeit, in der ich in tiefer Liebe mit allen und allem verbunden bin.
Fehlende Orte der Gemeinschaft
Je mehr ich das verstehe, umso klarer begreife ich eine gewisse Diskrepanz. Ich sehe eine Welt, in der die Anzahl der Menschen wächst, und ich bemerke gleichzeitig, dass Orte von Gemeinschaft – als Orte von Verbindung und Anteilnahme – oft fehlen (Ja, sie fehlen mir.) Und ich staune, über was und wie viel Menschen reden können, ohne dabei auf die für uns wesentlichen Dinge einzugehen. Bedürfnisse, wahres Befinden, Ängste und Wünsche etwa.
Obwohl wir heute im Tun so „umtriebig“ sind wie noch nie, bleibt oft Leere zurück. Die To-Do-Listen und Inhalte werden immer länger. Die To-Be-Listen stehen hinten an und die Frage „Wie geht es dir?“ gleicht oft einer Floskel.
Endlich verstehe ich, dass innere Leere nur eine logische Folge sein kann, wenn die Berührung unseres wesentlichen Wesens in dem, was wir tun und wie wir miteinander umgehen, ausbleibt. Ist doch die Qualität des eigenen menschlichen Seins auch im Tun und von der Seele erst erlebbar, wenn sie durch das goldene Band Verbundenheit mit ihrer Umgebung in Kontakt steht. Tun geht dann im Sein auf.
Wie diesen Kontext von Verbundenheit nun herstellen? Wie diese Art von Teilen und wesentlichem Austausch kreieren? An erster Stelle braucht es einen Vertrauensraum, in dem alle Akteure Haupt- sowie auch Nebenrolle gleichzeitig spielen dürfen – wo Mensch sein darf, wie er ist und er gewohnte Masken der Funktionalität hinter sich lassen darf.
Ehrliches Teilen und offenes Hinschauen
In diesen Räumen geht es einerseits darum, sich zu zeigen, um ehrliches Mitteilen. Anderseits geht es um die Bereitschaft, offen hinzuschauen, wenn das Gegenüber sich zeigt. Es geht darum, ihn oder sie unvoreingenommen wahrzunehmen und diesen Menschen in seinem So-Sein anzuerkennen. Begegnung. Wie harmonisch oder irritierend ich diese Begegnung auch wahr- oder annehme: Basiert sie auf Vertrauen und förderlichen Absichten, kann sich ein erweitertes Gefühl meiner selbst einstellen. Vielleicht sogar die Berührung im eigenen Herzen. Dann sind ein Blick und ein Austausch eines der kostbarsten Geschenke, das wir Menschen uns machen können.
Das Erfahren solch eines Raumes von Gemeinschaft in der Be(e) School 2014 hat mich gelehrt, dass ich mich durch andere ganz neu, ganz anders erkenne. Ich wuchs und gedieh exponentiell in diesem Jahresprogramm. Alle um mich herum ebenso und die Gruppe wuchs zusammen. Ich verstand, dass wir in polaren Beziehungen zueinander stehen, die aussenden und empfangen und in denen wir uns mit- und durcheinander, quasi dialektisch, entwickeln. Endlich ging etwas auf in meinem Leben.
Ich wusste zuvor nie so richtig, was tun in dieser Welt – wo es doch überall ums Tun geht. Nun endlich durfte ich eine Qualität von einem sich-unterstützenden Umfeld, wie ich es nenne, erfahren, in der das tief liegende Potenzial jedes Wesens nicht anders kann, als sich zu zeigen und zu wachsen. Ich erlebte mich plötzlich umfassender.
Würde ich ein Bild für diese Einsicht heranziehen, wäre es ein Kornblumenfeld. Wir wären Blumen, die sich gegenseitig stützen, auch bei Sturm, und die im Schein der Sonne und des Mondes nebeneinander wachsen und ruhen und mit der eigenen Blütenpracht die der Nebenblume bejubeln. Mir wurde klar, dass solch eine Art der Verbindung wie ein Nährboden ist, auf dem die schönsten Blumen wachsen können. Auf solch ein Feld schaut der Himmel und lächelt, weil er so viele anders aussehende und leuchtende Blumen erblickt.
Das eigene Potenzial leben
Das eigene Potenzial allein zu erspüren ist viel schwieriger. Ich habe es nicht geschafft, und ich glaube, dass wir den süßen Duft unser Nachbarblumen dafür benötigen. Genauso wie das frische und prickelnde Wasser der Inspiration, das Teilen von Wissen sowie den Austausch von Erfahrung. Das brauchen wir, um den eigenen Weg zu finden, einzuschlagen und/oder weiterzugehen. Das Erspüren, Erleben und der Ausdruck des eigenen Potenzials sind fundamental für die eigene Vitalität, die Qualität in unserem Leben. Erlebe ich mein Potenzial, werden Momente des wahren Selbstausdrucks möglich, in denen ich in tiefster Verbindung mit allem bin, was mich umgibt.
Dann gehe ich nicht nur meinen Weg, gehüllt in meinen Umhang der Marke Individualität, sondern gehöre zu einer Gesellschaft in der ich unsere Lebensumstände gemeinschaftlich mitgestalte, indem ich meinen Weg gehe.
Dieses Selbsterleben brauchen wir heute. Und ich wünsche mir so sehr durch die Gestaltung eines tragenden Miteinanders die Erfahrung dieser tiefen Wahrheit für uns alle. Die Verbundenheit, die wir dann finden, ist gespannt durch goldene Bänder, wird gemeinschaftlich getragen und fängt das Individuum auf, wenn es Halt benötigt.
Unsere Welt „braucht“ dieses sich-unterstützende Umfeld von Menschen, damit wir zusammen neue Wege gehen können. Wollen wir weitergehen, müssen wir gemeinsam gehen. Und dieser Weg wird uns nur berühren, wenn es um das Wesentliche geht: Verbundenheit nach Außen und darüber die Verbundenheit zu unserem eigenen innersten Wesen.
Ich wünsche mir eine Welt, in der ich das nicht nur in meinen engsten Kreisen erlebe, sondern überall. Auf der Straße, im Supermarkt, im Bus. Stell dir vor, du trittst vor die Haustür und jeden Tag ist Fußball-WM! Ja, dieses Gefühl und diese Magie wird möglich, wenn wir anfangen, das menschliche Sein in den anderen zu sehen und unser eigenes zu zeigen. Ich schaue liebevoll, da ich um dein Menschsein in dir als anderer Person weiß, und ich werde freundlich angeschaut. Wir lächeln. Ich bin. Und ein Gefühl von Zugehörigkeit gesellt sich freudig und natürlich dazu.
Wenn wir unser Miteinander so gestalten, dass wir Raum für menschlichen Austausch haben, wird Wesentliches fühlbar und Leben wunderbar lebendig. Dann ist Schluss mit Leere und Einzelkämpferei und ganz neue Dimensionen unseres Zusammenseins sind möglich – davon bin ich überzeugt.